Es ist eine entlegene Welt, weit draußen im Atlantik. Neun grüne Inseln, verstreut wie achtlos verlorene Felsbrocken im unendlichen Blau des Atlantischen Ozeans. So weit draußen, dass einige von ihnen geologisch gar nicht mehr zu Europa gehören.
Halbwegs zwischen den Kontinenten gelegen, gilt die Inselgruppe den einen als Rest des untergegangenen Atlantis, den anderen als die Spitzen des mittelatlantischen Rückens, die im Lauf der Erdgeschichte allesamt mit vulkanischer Kraft aufgerichtet wurden und sich auch heute noch mitunter kräftig schütteln.
Azoren – da denken wir als erstes an das Azorenhoch und das schöne Wetter. Dabei können die Inseln dafür gar nichts. Das Hoch entsteht weit südlich von ihnen, aber da ist nur Ozean, kein Ort, den man als Referenzpunkt nehmen könnte; daher hat man die gar nicht so nahe liegenden Inseln für die Namensgebung in Anspruch genommen. Die Azoren kümmert das wenig, sie haben ihr eigenes Wetter, mild, feucht, und stets wolkig; jede einzelne Insel ziert meist eine weiße Haube aus üppigen Quellwolken.
Vier Stunden westlich von Europa
Heute können wir bequem in viereinhalb Stunden von Frankfurt nach Ponta Delgada fliegen, das Einfallstor in die Azoren: eine Stadt mit bemerkenswerten Parkanlagen und ein paar historischen Gebäuden, ansonsten ein Siedlungsbrei für 60.000 Insulaner; Ponta Delagada und seine Vororte bilden die bei weitem größte Agglomeration auf dem Archipel, der insgesamt nur 220.000 Einwohner zählt. Darüber hinaus verteilen sich ebenso viele Rinder auf den Eilanden, statistisch kümmert sich also jeder Azorianer um ein Stück Vieh.
Es ist fast ein Unikum in der Weltgeschichte, dass die heutigen Azorianer wirklich die "Urbevölkerung" darstellen. Als die portugiesischen Entdecker Anfang des 15. Jahrhunderts die Inseln für ihr Land in Besitz nahmen, waren sie samt und sonders unbewohnt. Die Azoren blieben fortan portugiesisch und sind es bis zum heutigen Tage.
Sechs der neun Azoreninseln standen auf unserem Reiseplan. Da sie zum Teil weit auseinander liegen, hat jede ihren eigenen Charakter, ihre eigene Geschichte und ihre ganz eigenen Plätze, die besucht werden wollen. Als erste Insel stand die östlichste auf dem Programm: Santa Maria.
Santa Maria – die Erloschene
Santa Maria ist nicht nur die östlichste, sondern auch die südlichste und wärmste Azoreninsel, darüber hinaus die zweitkleinste. Als Auftakt für eine Azorenreise bietet sich die durchaus überschaubare Landmasse in idealer Weise an. Man wird Teil des Ozeans, der von keiner Stelle wirklich fern ist. Der Westen der Insel mit seiner „Hauptstadt“ Vila do Porto (1.200 Einwohner) ist für azorianische Verhältnisse relativ flach (mit einem Flughafenareal, das an große, aber längst vergangene Zeiten des Transatlantikverkehrs erinnert), der Osten hingegen zeigt eine charmante Vielfalt mit bezaubernden Küstenorten wie Maia oder Sao Lorenzo. Da ist nichts los außer jeder Menge Landschaft.
Die Orte kleben an der Steilküste aus aufgebrochenen Kraterwänden, wie in einem weiten Amphitheater ziehen sich Häuschen und Gärten an den Hängen hoch. Jeder Garten ist mit Lavamauern eingefriedet, um Wein und Obst geschützt vom Wind wachsen zu lassen.
Das Klima ist mild, die Vegetation nahezu subtropisch. Im Landesinneren – soweit man es auf einer so kleinen Insel überhaupt so nennen kann – findet man Wälder aus Kryptomerien.
Santa Maria ist geologisch die älteste Insel der Azoren und nicht mehr vulkanisch aktiv. Dennoch ist der vulkanische Ursprung unübersehbar. Auch an seiner Südküste, wo sich etwas sehr Rares befindet: ein Sandstrand. Ein schwarzer Sandstrand natürlich, denn er besteht aus Lava. Die „Praia Formosa“ (ganz einfach „schöner Strand) ist das bedeutendste Surfrevier der Azoren und bietet traumhafte Wellen, die über tausende Kilometer frei über den Atlantik heranrollen können.
Im Norden der Insel, im Badeort Anjos, gedenkt man des ersten bis heute prominenten Besuchers der Insel. 1493 suchte Christoph Columbus auf der Rückreise von seinem ersten Amerika-Trip auf Santa Maria Schutz vor einem Sturm. Die Einheimischen sollen von dem Halt der für sie feindlichen Spanier nicht begeistert gewesen sein. Ob Lösegeld verlangt wurde oder ob sich die Seefahrer so aus dem Staub machen konnten, verliert sich im Dunkel der Geschichte. Heute aber steht ein Columbus-Denkmal vor der kleinen Dorfkirche von Anjos und soll belegen, dass der große Entdecker in dem kleinen Kirchlein um nachlassende Winde gebetet haben soll.
Westwärts – ans Ende Europas
600 Kilometer nordwestlich von Santa Maria liegt das andere Ende des Archipels. Der Unterschied zwischen der östlichsten und der westlichsten Azoreninsel ist frappant. Auf Flores ist das Klima rauer, die Luft kühler und vor allem feuchter. Es regnet viel und heftig. Das sieht man der Insel auf den ersten Blick an. Nicht nur das üppige Grün der Wiesen und Weiden, auch meterdicke Moospolster an den Felswänden deuten an, dass Flores mit Südeuropa gar nichts mehr gemein hat.
Die Landschaft ist atemberaubend. Nicht freundlich und friedlich wie auf Santa Maria, schroff und steil fällt die Insel zum Atlantik hin ab. Der einzige Platz, auf dem ein Flugzeug landen kann, befindet sich an der kleinen Küstenebene um die Inselhauptstadt Santa Cruz. Der Flughafen umschließt das kleine Städtchen nahezu völlig.
Umso einsamer wird es im Inselinneren. Eine karge Hochfläche, mit Buschwerk bewachsen, in der sich pittoreske Kraterseen in unterschiedlichen Erscheinungsformen zeigen. Mal flach, mal tief, tief unten und kaum zugänglich, mal smaragdgrün, mal blauschwarz und das alles in unmittelbarer Nachbarschaft zueinander. Nur wenige Straßen erschließen die Insel, die an ihrer nach Amerika zeigenden Küste stolz die westlichste Gemeinde Europas präsentiert: Faja Grande – gelegen in einem zum Meer hin offenen Krater, an dessen Wänden sich die Wasser der Insel in beeindruckenden Katarakten zum Meer hinabstürzen, wie verwehte Schleier zumeist, denn der Wind bläst ständig und kräftig auf Flores.
Die Bevölkerung der Insel schrumpft. Zu hart sind die Lebens-bedingungen angesichts der mittlerweile erreichbaren Alternativen. Dörfer werden aufgegeben und verfallen. Nach Amerika zieht es viele, denn nahezu jeder Insulaner hat mittlerweile Verwandte dort, es leben mehr Menschen mit azorianischen Wurzeln in den USA als auf den Inseln.
Dennoch gibt es auch Menschen, die nach Flores einwandern. Im Süden der Insel – am Rande des Städtchens Lajes - gibt es ein empfehlenswertes Restaurant. Seine Betreiber sind vor Jahren in Familienstärke aus Deutschland gekommen, haben einen Bauernhof und das Wirtshaus übernommen, züchten Geflügel, Ziegen und Gemüse und fühlen sich auf der Insel pudelwohl. Ihre Küche ist authentisch, mit viel frischen Zutaten direkt von Hof und sehr schmackhaft. Wie überall auf den Azoren speist man sehr preiswert, aber selten so angenehm wie in der Casa do Rei in Lajes.
An der Nordspitze von Flores steht ein einsamer Leuchtturm inmitten von Kühen, der Farol do Albanaz. (Siehe Titelkopf dieser Seite) Er markiert den Anfang – oder das Ende - eines pittoresken Wanderweges an der Westküste der Insel, bis Faia Grande. Das ist der einzige Weg dorthin, eine Straße gibt es nicht. Auch keine Einkehrmöglichkeit. Drei Stunden Einsamkeit muss der Wanderer investieren, bei schönem Wetter ein Traum, bei schlechtem Wetter kann der Trip zum Alptraum werden. Dann wird aus dem Traumpfad ein glitschiger Saumpfad und der Wind droht unvorsichtige Zeitgenossen mit roher Gewalt von den Klippen zu kippen.
An klaren Tagen hingegen sähe der Leuchtturmwärter von Albanaz (wenn es ihn denn noch gäbe) hinüber zur nördlichsten Azoreninsel: Corvo. Dieses winzige Eiland besteht nur aus einem mächtigen Bergklotz mit einem Vulkankrater und dem Dorf Vila Nova do Corvo, das sich mit seinen 500 Menschenseelen stolz Inselhauptstadt nennen darf. Es gibt keinen anderen Ort auf der Insel. Wohl aber einen Flughafen, denn Flugzeuge sind Teil des Nahverkehrs auf den Azoren. Eine eigene Fluggesellschaft, die SATA, sorgt für den reibungslosen Transfer von Insel zu Insel - sofern Wind und Wetter es zulassen.
Ins Herz der Azoren – nach Faial
Nach der rauen Insel Flores freut man sich auf ein Stück weltmännischer Zivilisation, wie sie die Insel Faial verspricht. Zumindest in Gestalt ihrer Inselhauptstadt Horta. An diesem Ort mitten im Atlantik kreuzten sich in früheren Jahrzehnten die transatlantischen Nachrichtenkabel aller Ozean-Anrainer. Horta wurde sozusagen zum Nabel der Kabel und es entwickelte sich eine multinationale Gesellschaft in der Inselgesellschaft. Das Personal von Cable & Wireless, DAT und anderen Betreibern ließ es sich gut gehen. Heute braucht man solche Leute jedoch nicht mehr. Satelliten und Computer haben ihren Platz eingenommen. Ihre Quartiere wurden zu noblen Hotels oder – wie im Falle der deutschen Hinterlassenschaft – zum vorübergehenden Hauptquartier des Parlaments der Azoren. Denn das hat hier seinen Sitz.
Horta mit seinen sechseinhalbtausend Einwohnern ist ein bezaubernder Flecken in der Weite des Atlantik. Sein Hafen ist Anlaufpunkt für Kreuzfahrer und Hochseesegler, seine Straßen und Plätze versprühen Charme und Leben. Im Yachthafen machen die Atlantiksegler Station, versorgen sich mit Lebensmitteln und ein bisschen Kultur, bevor sie ihren Törn fortsetzen. Und viele verewigen sich und ihr Boot an den Hafenmauern mit einem bunten Bild. Diese Tradition wird seit Jahrzehnten hartnäckig gepflegt, ebenso wie der Mythos des „Peter Cafe Sport“ das immer noch legendär ist, obwohl es seine frühere Funktion als transatlantisches Kommunikationszentrum der Atlantiksegler in unserer Zeit wohl weitgehend verloren hat.
Faial aber ist kein Paradies. Immer noch wird die tektonisch sehr aktive Insel von Zeit zu Zeit von heftigen Erdstößen erschüttert. Im Westen der Insel ist dies mit Händen zu greifen. 1958 stieg vor der Küste der Vulkan Capelinhos aus dem Meer. Ein ganzes Jahr lang spuckte er Feuer und Asche und schüttete neues Land auf. Der Leuchtturm von Capelinhos steht heute ein Stück weit im Landesinneren, drum herum ist alles grau-braune Asche und lebensfeindliches Lavagestein. Ein bizarrer Kontrapunkt im Landschaftsbild dieser ansonst so grünen Insel. Ein Besuch dieses Ortes macht betroffen, weil augenscheinlich wird, wie verletzbar und gefährdet auch vermeintliche Paradiese sein können.
Über den „Kanal“ nach Pico
Eine nur wenige Kilometer breite Wasserstraße trennt Faial von der zweitgrößten Azoreninsel Pico. Die Fährfahrt von Horta nach Madalena, der „Hauptstadt“ von Pico, dauert nur eine halbe Stunde. Dann taucht man ein in eine ganz eigene Welt. Pico ist anders: karg, archaisch, rau und auf seine Weise wunderschön. Daran schuld ist vor allem der Berg. 2.351 Meter ragt der Vulkan Pico in die Höhe, er bestimmt alles auf der Insel, das Leben, das Wetter, das Wachstum von Pflanzen und Tieren. Von seinen mit Kraterwarzen gespickten Abhängen blickt man hinüber auf das idyllisch wirkende Faial und fühlt sich dennoch weit weg von Zivilisation und Menschen. Nur die Kühe teilen das Land mit einem, bis weit hinauf auf den Vulkan reicht ihr Revier, das sie mühsam beweiden.
Für Menschen bietet das Inselinnere wenig Siedlungsraum. Zu steinig, zu unfruchtbar ist die Gebirgslandschaft, nur Wacholderheide und jede Menge Steine zeigen, warum sich die Menschen auf Pico seit je her dem Meer besonders zugeneigt fühlen. Das Meer war immer gut zu ihnen. Mehrmals in den letzten Jahrhunderten hat der Vulkan Pico ihr Hab und Gut zerstört, aber sie sind geblieben, weil sie im Meer das fanden, was ihnen stets das Überleben sicherte: Wale.
Pico hat seinen Walfängern Denkmale gesetzt, die ehemaligen Walfabriken sind mittlerweile zu Museen geworden und die ehemaligen Walfänger fahren heute mit Touristen aufs Meer hinaus, um Wale zu beobachten und um im blauen Atlantik zu tauchen. Die Azoren sind ein Taucherparadies, die Meeresfauna um die Inseln ist an Artenvielfalt kaum zu überbieten und offenbar sind die Inselgewässer von der Überfischung der Ozeane bislang verschont geblieben.
Was man aber auf Pico selten zu sehen bekommt, ist der namengebende Berg selbst. Meist hüllt sich der Vulkan in einen dichten Wolkenschleier, ungern zeigt er seinen Gipfel. Aber wenn die Gunst der Stunde da ist, präsentiert er sich - oft nur für Minuten. Und dann ist es sogar von Vorteil, wenn man nicht direkt an seinem Fuß steht, sondern ihn aus gebührender Entfernung betrachten kann. Wenn er abends seine Wolkenmütze lüftet, ist er von Faial aus besonders eindrucksvoll zu sehen, vom Westen her mild beleuchtet von der untergehenden Sonne.
Terceira – jetzt wird’s historisch.
Der kurze Flug von Faial nach Terceira überquert die lange und schmale Insel Sao Jorge, auf der der beste Käse der Azoren hergestellt wird. Da dies kein ausreichender Grund für einen Inselaufenthalt ist (und weil man den Käse auch auf den anderen Azoreninseln zu kaufen bekommt) bleibt diese Insel in diesem Reisebericht im weiteren unerwähnt.
Auf Terceira ist vor allem ein Platz besonders bemerkenswert: die Inselhauptstadt Angra do Heroismo. Sie liegt im Schutz eines vorgelagerten Vulkankegels an der Südküste der Insel und war über Jahrhunderte ein Knotenpunkt des atlantischen Schiffsverkehrs.
Das hat Stadt und Hafen reich gemacht, was sich in der historischen Altstadt von Angra aufs Trefflichste besichtigen lässt. Mit ihren Renaissance-Bauten, dem Palast des Erzbischofs, den weiten Plätzen und Gärten hat sie einen für die Azoren außergewöhnlichen Charakter, den nicht nur die Einheimischen schätzen. Als 1980 ein schweres Erdbeben die Altstadt verwüstete, bauten die Insulaner sie haarklein nach historischen Vorlagen wieder auf. Als Anerkennung dafür verlieh die UNESCO der Stadt daraufhin den Status des Welt-Kulturerbes.
Man darf sich dennoch keine großstädtische Szenerie vorstellen. Auch Angra hat mit Vororten gerade mal 18.000 Einwohner. Die Infrastruktur ist auch hier karg. Zumindest aus der Sicht eines Festlandeuropäers.
Im Vergleich zum Rest der Insel ist Angra allerdings schon etwas Besonderes. Denn Terceira ist ansonsten hauptsächlich Rinderland. Mehr als 50.000 von ihnen weiden auf den eingefriedeten Wiesen, die aus diesem Grund schwer zu erwandern sind. Die Viehweiden sollte man meiden, denn neben den friedlich grasenden Kühen züchten die Terceirer auch Kampfstiere, die mehrmals im Jahr für öffentliche Auftritte auf die Straßen geholt werden. Diese Form des Stierkampfs „Tourada a corda“ genannt, gibt es nur hier. Die Stiere werden ans Stricken durchs Dorf geführt und die Dorjugend darf ein bisschen Mut beweisen. Unblutig das Ganze – wenn alles gut geht.
Landschaftlich ist Terceira die wohl unspektakulärste Azoreninsel. Außer Viehweiden gibt es ein paar Fumarolen, eine Lavahöhle, dann sind die wesentlichen natürlichen Sehenswürdigkeiten aufgezählt. Wäre da nicht die Hauptstadt mit ihren Kulturschätzen und ihrem denkmal-geschützten Zentrum, es gäbe wenig Grund, so weit zu reisen und diese Insel aufzusuchen.
Sao Miguel – auf der Hauptinsel läuft alles zusammen
Wer immer auf die Azoren reist, kommt an Sao Miguel nicht vorbei. Auf dem Flughafen von Ponta Delgada landen die großen Jets aus Europa und Amerika, im Hafen legen die Ozeanriesen an, die die Inseln mit dem versorgen, was sie selbst nicht produzieren. Also außer Fisch, Rindfleisch, Milch und Käse eigentlich mit allem.
Viele behaupten, Sao Miguel würde alles an landschaftlichen Reizen aufweisen, was die Azoren insgesamt zu bieten haben. Das ist nicht ganz falsch, denn die große Insel ist wirklich sehr vielfältig. Aber der Reiz einer Azorenreise ist es ja, die Unterschiedlichkeit jeder einzelnen Insel zu erleben. Und so hat auch Sao Miguel seine ganz eigenen Reize, die vor allem außerhalb der Hauptstadt Ponta Delgada zu finden sind.
Es gibt einen Punkt auf der Insel, den Pico de Barrosa, von dem man Nord- und Südküste gleichzeitig sehen kann. Welche von beiden die schönere ist, bleibt unentschieden. Sao Miguel hat eine wunderbare Küstenlandschaft mit malerischen Felsklippen, verträumten Dörfern und wilder Meeresbrandung, und meist scheint da die Sonne, auch wenn sich über der Insel die Haufenwolken ballen. Die Landmasse der großen Insel kann eine Menge Wolken binden und das tut sie denn auch ganz fleißig.
Das mögen die Hortensien: Die wachsen auf der Insel wie Unkraut am Straßenrand. Einstmals eingeschleppt, sind diese Blumen mittlerweile fast zum Wahrzeichen der Inseln geworden. Und im Sommer schmücken die Blüten in allen möglichen Farben die Insel. Hat man je ein schöneres Unkraut gesehen?
Ganz charakteristisch für Sao Miguel ist die Bäderkultur, die sich rund um den Kurort Furnas entwickelt hat. Furnas ist einmalig, auch wenn es nicht jedem gefallen mag. Schön ist vor allem der Park der Villa Terra Nostra mit exotischen Pflanzen und schattigen Wegen. Mitten in diesem Park befindet sich ein Becken mit seltsam braungelbem Wasser, das nicht besonders gut riecht. Darin baden Menschen, die genau deshalb glauben, es täte ihren Knochen gut.
Rund um Furnas brodelt und kocht es in der Erde. Aus der Sitte, die Erdwärme zum Kochen von Speisen zu benutzen, hat man in Furnas eine Touristenattraktion gemacht. „Cozido“ heißt das für mehrere Stunden im Boden versenkte Eintopfgericht. Wer es in Furnas bestellt, muss entsprechend lang am Ort bleiben und sich die Zeit mit Tretbootfahren im Lagoa das Furnas vertreiben. Ein nicht ganz zweifelsfreies Vergnügen, denn der grüngelbe See wirkt nicht wirklich einladend, er ist eutrophiert und droht ständig biologisch umzukippen. Da gibt es auf Sao Miguel wahrlich schönere Plätze.
Zum Beispiel die Nordküste mit ihren Teeplantagen, den einzigen in Europa. Oder die Südküste mit ihrem fast mediterranen Charme. Oder aber die einsame Ostküste. Oder doch lieber die Westküste? Egal wo, immer bieten sich atemberaubende Ausblicke hinunter auf den Ozean und man wird niemals müde, diese Ausblicke und das Rauschen des Meeres in sich aufzunehmen.
Weit im Osten, nahe dem Städtchen Nordeste, ist einer der malerischsten Punkte der Insel. Das Kap Ponta de Arnel ziert ein Leuchtturm und ein kleiner Hafen. Das Sträßlein, das hinunterführt, ist eng und tückisch. Es ist niemandem zu empfehlen, da hinunter zu fahren. Und den schönsten Anblick hat man ohnehin von der Küstenstraße oben.
Am anderen Ende der Insel, im äußersten Westen, liegt der Ort Mosteiros, dort ist es nicht minder schön. Riesige Felsen liegen da vor der Küste, an ihnen brechen sich die Atlantikwellen mit großer Wucht, darüber kreisen die Möwen und toben mit der Brandung um die Wette. Trotz solcher beeindruckender Küstenszenarien ist die Krone der landschaftlichen Schönheit von Sao Miguel wohl im Inselinneren verborgen.
Aber auch hier ist es schwer, die Krone zu vergeben. Ist es der Lagoa do Fogo, der Feuersee? Oder doch die Caldeira von Sete Cidades? Wer das Glück hat, diese beiden Landschaftsjuwele bei freier Sicht und gutem Wetter zu bestaunen, wird nicht werten wollen, nur dankbar sein, dass es ihm vergönnt war.
Der Gebirgssee Laoga do Fogo liegt mitten auf der Insel auf nahezu tausend Metern Höhe. Angesichts der Topografie wirkt er riesig, kaum von einem Punkt zur Gänze überblickbar. Zweimal haben wir den Platz vergeblich aufgesucht, mit dem kleinen schmalbrüstigen Mietwagen die steile Passstrecke erklommen und dann enttäuscht im Nebel gestanden, am dritten Tag war die Sicht endlich frei.
Ist das der schönste Blick der Insel? Oder doch die Caldeira von Sete Cidades, nahe der Westküste? Der blaue und der grüne See, Lagoa Azul und Lagoa Verde, breiten sich auf malerische Weise in dem alten Vulkankrater aus, in dem sich das kleine Örtchen mit den großsprecherischen Namen (Sete Cidades heißt „Sieben Städte“) ans Ufer schmiegt. Der Aussichtspunkt hoch über der Caldeira heißt bezeichnenderweise „Vista do Rei“, königlicher Aussichtspunkt. Dem ist nichts hinzuzufügen.
Wieder zuhause – was bleibt?
Es bleibt die Erinnerung an eine abwechslungsreiche und eindrucksvolle Reise über eine traumhaft schöne Inselgruppe, die sehr weit weg ist. Nicht nur räumlich.
Die Azoren sind eine arme Region, ihre Wirtschaftskraft resultiert aus Fischfang, Viehzucht und Tourismus. Mit Fischfang und Viehzucht ist nirgendwo auf der Welt viel Geld zu verdienen, wenn es nicht industriell betrieben wird. Und einen richtigen Massentourismus gibt es auf den Azoren – Gott sei Dank – auch nicht. Dazu sind die Inseln zu einsam und zu „strandlos“.
Wer fährt da hin? Neugierige Menschen, die Entdeckerfreude entwickeln. Die an landschaftlicher Schönheit ebenso interessiert sind wie an historischen Zeugnissen. Die bereit sind, das Wesen einer Region verstehen zu wollen.
Der Reiz der Azoren ist gleichzeitig ihr Problem. Sie sind die entlegenste Gegend Europas. Ja, in früheren Jahrhunderten brauchte man die Inseln. Als man noch über den Atlantik segelte, musste man in Horta, Angra oder Ponta Delgada Halt machen, seine Vorräte auffrischen und neues Wasser aufnehmen. Und als im 20 Jahrhundert die Flugzeuge die Passagiere noch nicht nonstop über den Atlantik bringen konnten, boten sich die Azoren zur Zwischenlandung an. Immer noch zeugt das riesige Flugfeld von Santa Maria von dieser Ära. Heute fliegen wir am Stück von Frankfurt nach Los Angeles und kriegen von der Welt da unten kaum noch etwas mit. Und die großen Frachtschiffe können wochenlang auf See verbringen, ohne teure Landgänge in Kauf zu nehmen.
Das hat die Azoren wieder arm gemacht. Zwar hat die EU in den vergangenen Jahrzehnten eine Menge Geld in den Archipel gesteckt; das erklärt die gute Verkehrsinfrastruktur (Straßen und Flughäfen), half aber den Insulanern nicht wirklich aus ihrer Perspektivlosigkeit.
Sie werden weiter Rinder züchten und sie dann zum Schlachten auf Festland schicken. Sie werden ihren guten Käse hauptsächlich selber essen und allenfalls ins Mutterland Portugal exportieren. Der Tourismus wird weiterhin von den US-Azorianern abhängen, umso mehr, als sich die meisten Festlands-Portugiesen gegenwärtig eine Azorenreise gar nicht leisten können. Nur in den Monaten Juli bis September sind die auch dann überschaubaren Touristenscharen da, den Rest des Jahres sind die Insulaner meist unter sich.
Für uns war das schön. Wir konnten ungestört alles genießen, was die Inseln zu bieten haben. Nein, nicht alles. Keinen Bacalao (warum norwegischen Trockenfisch, wenn das Meer ringsum voller frischer Fische ist?) und keinen Cozido (Eintopf ist Eintopf, ob am Herd oder in der Erde gekocht) – so was überlassen wir gerne denen, die es für unverzichtbar halten.
Wir haben die Azoren ins Herz geschlossen, sie auf unsere Weise entdeckt und zu „unseren“ Inseln gemacht. Ich glaube, wir haben sie verstanden. Und das ist es, was bleibt.
(Juni 2014)